Sämtliche Fantasien vom Großen Glück klingen zwar attraktiv, betrachtet man jedoch Glücksgefühle historisch, gab es bisher zwar stets Erlösungsfantasien, bloß zeigt die empirische Sachlage Derartiges im praktischen Leben nicht auf. Das Enttäuschungspotenzial muss von allein umso größer werden, je weniger diese fragwürdigen und in der Endkonsequenz auch gefährlichen Ziele erreicht werden. Schwer vorstellbar, dass es für die, die „es geschafft" haben, ein Beifallspenderkommando derer gibt, die sich für den Gewinner ehrlich freuen, ohne selbst Verlustängste zu erleiden. Dass man sich im Falle eines Lottovolltreffers selten etwas anders als Missgunst ja sogar eine satte Neidindustrie heranzüchtet, dass die Notfallanfragen sich häufen, die besten Freunde langhalsig an die Fleischtöpfe wollen, die schlechtesten ebenso, dass sich nach dem ersten Kaufrausch von exquisiten Überflussgegenständen schnell wieder ein Grauschleier einstellt - der gleiche wie eben vor dem Lottogewinn, dass man erheblichen Druck verspürt, die Beute vor ausgehungerten Greifvogelschwärmen zu schützen, dass man zu überzogenen Taten und falschen Vermögensberatern neigt, dass man Schieflagen erzeugt, dass dort, wo sich eine Situation grundlegend ändert, Spannungen entstehen, Sonderenergien aufgewendet werden müssen, Außerordentlichkeiten zu bewältigen sind, wird im Vorfeld meist verkannt und hält niemandem von der lieb gewonnenen Vorstellung ab, man hätte es „geschafft". Insbesondere wenn sich außergewöhnliche Situationen einstellen, neigt man monokausal auch zu außergewöhnlichen Reaktionen. Es formieren sich Gegenbewegungen und Angriffslustigkeit und auf Seiten des Exponenten Angriffspunkte. Ein Lottogewinn ist ein Extremereignis, eine Art „Unfall", auf welchen der Organismus trotz ewigen Hoffens nicht optimal vorbereitet ist. Es werden zwangsläufig Extreme erzeugt, sowohl neurochemisch als auch praktisch-physikalisch im Leben. Es ist unmöglich, sich Pauschallösungen zu erkaufen, solange das Persönlichkeitsbild dem nicht entspricht. Den dazu erforderlichen Veränderungs-, Wachstums- und Reifeprozess nehmen einem die Papierscheine nicht ab.

Glücksbote Bernd Willers vom Lotto Niedersachsen sagt dazu: "Es ist nun mal niemand gewohnt, plötzlich über Millionen zu verfügen, da kann es zu Überreaktionen kommen." Und er weiß auch, dass das schnelle Geld unglücklich machen kann, wie im Fall Lothar Kuzydlowski. "Lotto-Lothar", der „ärmste Millionär" aller Zeiten knackte 1994 in seiner Eigenschaft als Sozialhilfe-Empfänger den Jackpot von 3,9 Millionen D-Mark. "Lotto-Lothar" verlor flott die Nerven, verständigte umgehend die Boulevard-Presse und begann unter permanenter öffentlicher Beobachtung, sein Geld zu verprassen. Der Neureiche leistete sich eigene Pferde, einen Lamborghini, feierte Orgien und trank bis er 53-jährig abrupt starb. Seine Witwe und seine Freundin stritten sich - wer hätte das vermutet - noch 2004 ums Erbe. Die Geschichte von „Champagner Dieter" ist auch nicht erfolgreicher und analog anzuwenden. Meistens stehen Großgewinner zunächst unter großem Schock", weiß Willers, der seit über 20 Jahren Gewinnerbetreuer ist. Seitens der Lottogesellschaften gibt es nicht von ungefähr Betreuer, die die Gewinner, namentlich „ihre Spezis", beraten, Ihnen Nützliches kredenzen, um sie vor übereilten Dummheiten zu bewahren. Es ist eine Art vor verlagertes Krisenmanagement, was sie gewiss nicht ohne Grund betreiben. Meistens neigen die Gewinner zu Unüberlegtheiten, was die Konflikthäufigkeit noch erhöht. „Lotto Lothar" und „Champagner Dieter" sind noch die prominentesten Beispiele und haben es aufgezeigt. Allerdings: in einer Tippgemeinschaft in Italien, welche einen Volltreffer landete und alle Mitwirkenden anteilig eine gehörige Summe gewannen, ließen sich durchgängig Untergänge verzeichnen und kein Einzelner konnte nennenswerte Resultate vorlegen. In der kleinen Gemeinde gab es nur Dramen, untereinander Animositäten, Verlust, sinnlosen Gegenstandskonsum und nichts Konstruktives, noch nicht einmal Investitionskapital konnte in der Gemeinde verzeichnet werden. Es regierte durchweg Unvernunft, bis niemand von ihnen etwas Nachhaltiges davon hatte. Derlei Beispiele gibt es Etliche. Psychologe Wolfgang Krüger (Interview: Berliner Zeitung) sagt: „Man weiß aus Untersuchungen, dass viele Lottogewinner nach einigen Jahren wieder genauso arm sind wie vor ihrem Glückstreffer oder sogar noch ärmer".

Dass überhaupt in den wenigsten Fällen Positives entsteht, weil auch nur ganz Wenige positiv rational damit umgehen können, also meist die eine „saubere", nachhaltige Lösung herstellen, die von ihrem Persönlichkeitsprofil her sowieso ein strategisch höher ausgeprägtes Talent zur Besonnenheit haben, also die, die von Haus aus über vollkommen andere Merkmale und Fertigkeiten verfügen, die sie den anderen geistig überlegen machen, machen sich die Wenigsten klar.

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 Der Geldsegen war nur von kurzer Dauer

Trotz dieser Sachlage: Der Mythos „Lottoerlösung" unserer ökonomisierten Welt ist stark und wir sind wie von Zauberhand paralysiert. Ein Lottogewinn ist gleichwohl unrealistisch, es muss um Mehr gehen. Quasireligiöse Hirnstrukturen organisieren sich, und lassen den Wunsch nach Lottoerlösung ins Mystische abdriften.

Was passiert, wenn man den Menschen dieser kruden Hoffnung berauben würde, wenn man ihm sagen würde: „auch wenn du dir noch so sehr einen Ausstieg aus deinem Provinzleben, von den scheppernden und verkrusteten Kochtöpfen wünschst, was ist, wenn einfach nichts mehr kommt?" - wie es regelmäßig ja auch ist. „Was, wenn du vierzig, fünfzig, sechzig bist und es ist immer noch nichts da, zumal wir in einer wackeligen Zivilisation ohne jegliche Garantien leben und viele vergeblich auf Etwas warten?" Dann fehlt dem Menschen der Rettungsanker, Orientierung wie Hoffnung und er ist im Lebensmut mindestens angeschlagen, wenn nicht gebrochen.

In modernen Gesellschaften herrscht zudem ein überdehntes Bedürfnis nach Sicherheit, was dem faktischen Zustand und der Historie nicht gerecht wird. Auch gläubige Sicherheitswesen sind vor Krisen keineswegs gefeit, was aktuell genauestens zu spüren ist, insbesondere, wo sich draußen in der Welt die Verteilungskämpfe rüde anbahnen und ausgerechnet jetzt - gerade jetzt - träumt das Kollektiv umso trotziger von Sicherheit und Wohlstand in einer Trutzburg. Es könnte ein tragischer Irrtum sein, zu meinen es könne dauerhafte Wohlstandssteigerungen geben, obwohl der die Nation umhüllende Mantel von hungrigen Völkern darauf wartet, der lethargischen Nation den Wohlstand streitig zu machen. Wie lange soll das gut gehen, insbesondere wenn das Kollektiv gieriger, trotziger und unersättlicher wird.

Lottogewinn dient gewissermaßen als Baugenehmigung für Luftschlösser und Umfragen belegen, dass diese Träumereien längst anerkannt sind und nicht mehr in einer Zocker-Nische stattfinden. Bspw. hat sich die Zahl der Abiturienten verdoppelt, auch spielen immer mehr Frauen mit, es handelt sich also um eine Klientelerweiterung. Im Jahre 2005 wurden 97 Mio. Euro investiert, um einen Jackpot von 26 Mio. zu knacken. Es lässt sich mithin tendenziell ein Anstieg der Bereitschaft innerhalb der Hoffnungsgemeinde verzeichnen. Seit 1970 stiegen die öffentlichen Einnahmen aus Glücksspielen um mehr als 700 %.

 

 

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