Die Verhaftung von Bernardo Provenzano, dem Oberhaupt der Cosa Nostra, Italiens "blutrünstigstem Killer", ist also nun seit 2006 vollzogen. Die Politiker zitterten, der Staatsanwalt schwieg. Es ist im Nachhinein zu klären, warum er so spät gefangen wurde - Provenzano wurde lange Zeit überhaupt nicht von Fahndern behelligt und hielt sogar problemlos Kontakt zu Frau und Kindern, die sich selbst nicht mehr im Untergrund befanden, und sogar seelenruhig nach Corleone zurückkehrten.
Da zeigt sich das typische Bild. Die Familie verriet aus der Natur der Sache natürlich nichts, selbst nach tagelangen Verhören. Zudem: von den Dorfbewohnern in den heimatlichen Gefilden gedeckt, von der Polizei gedeckt, von ganz oben gedeckt. Auf diese Weise avancierte er zum Symbol der Machtlosigkeit eines kraftlosen Staates, der es nicht vermag, die tief in der Bevölkerung verwurzelten Strukturen der Mafia zu zerschlagen. Das Schweigen, das Dichthalten und die Protektion auch durch die Polizei - nur dies eröffnet die Möglichkeit, dass sich ein Gesuchter mehr als 40 Jahre lang versteckt halten konnte und doch als der gefährlichste und einflussreichste Verbrecher des Landes verblieb." So wurde etwa vom obersten Mafiajäger Piero Grasso die Anschuldigung erhoben, dass Provenzano von Politikern, Unternehmern und Polizisten geschützt worden sei. Der Chef der italienischen Geheimdienste, Mario Mori z.B. , ist wegen der Verschleppung von Anti-Mafia-Ermittlungen angeklagt worden. Es wurde auch Beweismaterial vernichtet. So hat der „Traktor" seinen Boss „Totò" Riina an die Carabinieri verkauft und im Gegenzug die Zusage erhalten, er könne sämtliches Beweismaterial abtransportieren lassen - darunter auch eventuell Belastendes über Kontakte zwischen Politik und Mafia. Das legt nebenbei auch offen, wie es um den romantischen Ehrenkodex der mutigen Mafia-Helden wirklich steht, wenn sie sich an die hehren Regeln ihrer eigenen Schweigegelübde nicht halten. Fakt ist: Die Netzwerkstruktur der Mafia ist ein Grund, warum sich die Behörden die Zähne daran ausbeißen.
In diesem Kontext wurde 2004 auch ein Film gedreht („Il fantasma di Corleone"), der sich mit der Frage beschäftigt, weshalb Provenzano all die Jahre nie gefasst wurde. Eine zentrale Aussage in der Dokumentation ist die von Michele Riccio, einem hochrangigen Carabiniere, erzählte Begebenheit, dass er, als er Provenzano hätte verhaften können, von höherer Stelle (Oberst Mori) zurückgepfiffen worden sei. Durch diesen Schutz höherer staatlicher Beamter konnte Provenzano unbehelligt sein, so bestätigt auch Guido Lo Forte, Staatsanwalt in Palermo.
Die sizilianische Cosa Nostra birgt insgesamt wenig Mythos, als viel mehr schlimme Realitäten und deren böse Banalität in Gestalt „bäuerlicher Ehrenmänner", die sich nicht scheuen, etwa Kinder, zu denen sie zuvor warme, familiäre Beziehungen pflegten, umzubringen. Die Cosa Nostra sucht als kapitalistische Organisation den wirtschaftlichen Erfolg etwa anhand Drogen- oder Abfallhandel und kontrolliert die Agrarmärkte, das Gesundheitswesen, Bauprojekte. Die Mafia, der Staat und die Gesellschaft sind sehr stark miteinander vernetzt. Sie bildet zudem Netzwerke mit Mafia anderer Länder. Was sie jedoch blühen lässt, ist das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Staat und den Institutionen der Zivilgesellschaft und sie fungiert dabei als beschützende Kraft. Die Karriere der Mafia ist seit jeher verbunden mit der politischen Entwicklung Italiens. Die Politik schafft es regelmäßig nicht, Vertrauen in öffentliche Institutionen herzustellen.Viele Bürger profitieren von der Mafia und erbringen ihre Gegenleistung, indem sie schweigen und haben genauestens verinnerlicht, dass man außerhalb von Familie und Verwandtschaft auf Hilfe und Schutz von Freunden, Paten und Mafiosi angewiesen ist, um vorwärts zu kommen. Auch Provenzanos 40jährige Flucht zeigt, wie gross die Unterstützung der Mafia war. Die aktuellen wirtschaftlichen Probleme Italiens werde die Mafia noch einmal stärken - und das Vertrauen in den Staat zusätzlich schwächen", so der Ethnologe und Italienkenner, Prof. Christian Giordano (61), Institut für Sozialanthropologie, Universität Freiburg.
Für Palermos Oberstaatsanwalt Piero Grasso steht fest: "Die Mafia fühlt sich heute stark wie nie. Sie muss nicht mehr zu Gewalt greifen, um ihre Geschäfte zu tätigen." Die neue Mafia besinne sich, paradoxerweise, auf alte Werte: Sie verschwinde vordergründig aus dem öffentlichen Leben, weil sie gemerkt habe, dass die großen Attentate vor allem ihr selbst geschadet haben. Der Wille der Bevölkerung, sich gegen die Mafia aufzulehnen, sagt Grasso, sei nie so groß gewesen wie nach der Ermordung der beiden Richter Falcone und Borsellino vor zehn Jahren. "Heute erleben wir eine Rückkehr zur Antike, ein Revival der alten Strategien, der alten Denkmuster, des alten Verhaltenscodex: Infiltrieren und koexistieren statt von draußen den Staat und die Gesellschaft frontal zu bekämpfen - so lautet das Losungswort des neuen Jahrtausends."
Und diesen Modus repräsentierte keienr besser als „Altgardist" Provenzano, seit 1993 Nummer eins der sizilianischen Mafia. Unter seiner Führung vollzog die Cosa Nostra in den letzten zehn Jahren eigenartigerweise eine beachtliche Kehrtwendung. Nach 1995 wurden keine prominenten Politiker mehr ermordet, auch ging die Kleinkriminalität in den sizilianischen Großstädten Palermo und Catania deutlich zurück. Man verfuhr nach dem Prinzip «mangia e fai mangiare», essen und essen lassen, und kam mit dem Schwinden manifester Gewalt auch aus den Schlagzeilen. Dazu gehörte auch Provenzanos Strategie, die «Pentiti», also die Abtrünnigen, die sich zu Aussagen vor Gericht bereit erklärt haben, nicht mehr wie früher samt ihrer Familien hinrichten zu lassen. Vielmehr bot man ihnen von nun an die Rückkehr in die Organisation an, insofern sie auf ihre Aussagen verzichteten. So dumpf kann „der Traktor" dann nicht gewesen sein, wenn er „humane" Maßstäbe setzt.
Italien ist ein befremdliches Land. So viele Regierungen, die sich selbst verschlissen haben und soviel strukturelle Mafia. Ein instabiles Umfeld ist genau das, was Mafia benötigt, um zu gedeihen. Die Cosa Nostra bekämpft den Staat nicht mehr, sondern geht in ihm auf. Das ist in Deutschland anders: Mafia - also schmierige Sauereien im Schulterschluss von Politik und Wirtschaft, aus Polizei und Bürger, begangen von Kranken, Ordinären, Korrupten und gewalttätigen Schwerverbrechern, die für Geld und falsche Ehre Kollegen und Kinder morden - gibt es außer in Italien nur in Dänemark, Holland, Belgien, Luxemburg, Schweiz, Frankreich, Österreich, Ungarn, Tschechien, und Polen...ach ja, in China natürlich noch, auf dem Balkan, in Nigeria, El Salvador sowie bei den Russen, aber nicht in Deutschland. Deutschland ist absolut sauber, bis hin zum administrativen Bereich.
Wie geht es in Italien ohne einen gefürchteten Boss weiter? Ist es bosslos oder werden sich neue Verbrecher, Bandenkriege und neue Generationen von Mafiosi finden, die nach Macht greifen, wird Italien gar ein Land der Freude und Blumen? Einige Mafia-Experten warnten vor allzu grossem Optimismus. Die Cosa Nostra habe sich stets als „gefährliche Hydra" erwiesen, dessen fehlendem Kopf flugs ein neuer nachwachse". Provenzano ist schon lange nicht mehr die dominierende Figur ist, als die er inszeniert wurde. Seine Nachfolger dürften längst bestimmt sein. Christian Giordano, geht sogar davon aus, dass Provenzano letztlich von ihnen fallengelassen wurde. Ohnehin fiele auf, dass „spektakuläre Zugriffe der Polizei meist Mafiosi im Alter" beträfen. Außerdem gibt es einen «Boss der Bosse» eigentlich nicht.
Der Mythos ist lediglich suggestiv und gehöre zum „folkloristischen, mysteriös angehauchten Bild des archaischen Paten, von dem die Mafia letztlich profitiert, weil es ihr Image verbessert und sie fast ein bisschen sympathisch mache". Es ist, wie bei Osama Bin Laden: da ist die öffentliche Figur, die das Image prägt, aber eben nicht alles steuert.
Dann war der mythische Traktor im Grunde nur ein Vorgeschobener, Brutaler, Fallengelassener...?
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