Palermo, Sizilien - der Boss der Bosse und seine Pizzini. Traktor Bernardo Provenzano, ein Brutaler! von Heiner Koese
Bernardo Provenzano, »Capo di tutti capi«, der Boss aller Mafia-Bosse, Mafioso aus Sizilien war 40 Jahre auf der Flucht und wurde überall gesucht. 50 Menschen hat der Pate der Cosa Nostra ermordet. Der ermordete Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone nannte Provenzano den blutrünstigsten Killer der Mafia. Die Gefängnisstrafe lautet sechs Mal lebenslänglich und addiert sich zu insgesamt 250 Jahren. Was ist ein Mythos?
Bernardo Provenzano war nach dem Mord an drei Männern eines konkurrierenden Clans seit 1963 untergetaucht. Die Fahnder nannten ihn „Mann ohne Gesicht" oder „das Phantom". Er wurde außer in Italien in Nord- und Südamerika sowie in Australien gesucht. Er war der „Super-Latitante", der meistgesuchte Mann des Landes. Um das Phantom herum rankten sich Legenden und es entwickelte sich ein Mythos, insbesondere da er aus Verstecken heraus das Imperium der Cosa Nostra lenkte und leitete. Dann wurde er 2006 endlich verhaftet. Seine Verhaftung galt als der „entscheidende Schlag" gegen die Cosa Nostra.
Der heute 74-jährige sieht nicht aus wie Brando, Pacino oder gar Cyphre (De Niro aus „Angel Heart"), der sich mit filigranen Händen und stilvoll in Zeitlupe ein Ei pellt und selbiges wollüstig wie einen Kopf verspeist. Bernardo Provenzano, sah bei seiner Verhaftung in einem heruntergekommenen Versteck in Corleone, 30 km südlich von Palermo, aus wie ein Männchen, wie irgendein Männchen, in Pullover und Jeans, welches verstört lachte, weil es prinzipiell überwältigt war, gleichwohl keine körperliche Regung oder Widerstand zeigte. Da war natürlich nichts Mythisches. Da war auch kein Blutbad, wie in Francis-Ford-Coppola-Filmen. Bestenfalls soll er bei seiner Festnahme den anwesenden Beamten gesagt haben: „Ihr wisst nicht, was ihr tut". Das klingt zumindest mythisch.
Verhaftungsvideo |
In seinem Versteck fanden sich etwa 200 kleine Kassiber-ähnliche Zettel, genannt „Pizzini", mit Hilfe derer er mit der Außenwelt kommunizierte, aber sich letztlich auch der Polizei verriet, da diese inzwischen die Weiterleitung der Zettel an seine Boten und Gefolgsleute im Visier hatte.
Das Zettel-Männchen hatte es in sich - es war ein gewaltiger Traktor. In den fünfziger Jahren war er ein zuverlässiger Killer, der sich mit seiner Skrupellosigkeit Respekt verschafft hatte. Er wurde deshalb „u tratturi" genannt, weil er auch wie ein Traktor funktionierte, einst kompromisslos alles niederwalzte und einen martialischen Charakter aufwies - Bernardo „The Tractor" Provenzano. Kein Hindernis, das ihn aufhielt, kein Pflaster, auf das er sich nicht wagte. Es hieß über ihn, er schieße wie ein Gott, habe aber das Hirn eines Spatzen. Der Spitzname «Traktor» lässt ohnehin zunächst auf wenig Feinfühliges und Diplomatisches schließen.
Provenzano war äußerst brutal und trotzdem gläubig. Ein zärtlicher Familienvater solle er sein: "Küsse mir die Kinder", schrieb er in seine Briefe, gelegentlich auch mit "Der Herr segne und behüte Euch". Gemäß Ermittlungen soll er mit Hilfe von kommentierten Bibeltexten verschlüsselte Befehle an seine Anhänger versandt haben. "Und es kam einer von den sieben Engeln und sprach zu mir: Komm, ich will dir zeigen das Urteil der großen Hure, mit welcher gehurt haben die Könige auf Erden", heißt es in der Offenbarung des Johannes und auf einer Schreibmaschinenseite, die man bei der Festnahme 2006 in seiner Hütte fand.
Provenzano entspringt den „Corleonesi" aus dem Bergstädtchen Corleone und beteiligte sich schon im Jahre 1958 am Mord des Paten Michele Navarra und 1963 ermorderte er dessen letzten Anhänger. Er tauchte unter und arbeitete im Verborgenen an seinem Aufstieg bis an die Spitze der Organisation. Zunächst arbeitete er als Schuldeneintreiber für ein Kreditunternehmen, dessen eigentliche Funktion darin bestand, Drogengelder zu waschen. Später machte er seine Geschäfte mit medizinischen Dienstleistungen, in der Bauwirtschaft und der Abfallverwertung. Bald galt er als rechte Hand von Totò Riina dem aktuellen Paten der Cosa Nostra. Im Verlaufe eines gnadenlosen Mafia-Krieges 1981 und 1982, dem Hunderte Mafiosi zum Opfer fielen, stiegen die Corleonesi zur führenden Mafia-Familie in Sizilien auf. Als 1993 Boss Toto Riina gefasst und schließlich verurteilt wurde, unter anderem wegen der Attentate auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, wurde Provenzano sofort sein Nachfolger und damit faktisch capo di tutti capi („Boss aller Mafia-Bosse"). Er übernahm das Kommando: "Ich bin der Boss und lebe in Palermo", habe er dem zuständigen Staatsanwalt geschrieben.
Von den 60ern bis 2006 tauchte er unter und wurde nicht mehr gesehen. Da es nur ein 46 Jahre altes Fahndungsfoto aus seiner Jugendzeit gab, veröffentlichte die italienische Polizei jahrelang nur ein Phantombild.
Phantombild 2005 60er Jahre
Jahrelang führte Provenzano die Polizei vor, war nie zu fassen. Die Spezialfahnder erlebten stets Pleiten. Gab es einen „heißen Tipp", rückten sie an, doch er war längst von Dannen gehuscht. So führte eine Razzia 2005 an verschiedenen Orten Siziliens zwar zur Verhaftung von 46 Verdächtigen, aber er war nicht dabei. 2003 lag er zwecks Prostata-Operation in einer Privatklinik, aber die Fahnder erfuhren es zu spät. Dies erinnert ein wenig an den Deutschen „Dagobert" (Arno Funke), den Kaufhaus-Erpresser, der ein bunt-intelligentes Spiel mit der Polizei betrieb, lange umsonst gejagt wurde und ebenso zum Mythos wurde. Provenzano bekam immer Infos aus erster Hand, vermutlich von ganz oben aus dem Polizeihimmel.
Aus welchem Stoff speist sich ein Mythos? Aus einem extravaganten Äußeren kann es vorliegend nicht sein - also kommt es von der Brutalität her! Und kleine Männchen können brutal sein, sind oftmals voller Hass, Gift und soziopathischer Fertigkeiten, weil sie Einiges zu kompensieren haben. Viele bedeutende Strippenzieher waren Männchen. Nicht nur oft zitierte wie Napoleon, Berlusconi, oder Adolf. Männchen dieser Kategorie hatten und haben einen verschlagenen Habitus.
Haben sie fernab von typologischen Physiognomiethesen für einen durchschnittlichen Beobachter denn auch ein brutales Gesicht? Ist Provenzanos Gesicht brutal genug, als dass es für einen Mythos ausreicht?
Selbst wenn, es liegt jedenfalls weit außerhalb einer echten Legende. Merkmale wie bspw. eng stehende Augen, schmale kommunikationslose Lippen treffen auch auf reichlich unlegendäres Fußvolk zu. Die meisten „schweren Legenden" von Jesus bis Yeti - wie die Forschung unmißverständlich hervorbrachte - sehen nicht aus, wie man meint und sie gern bewundern möchte; letztendlich eher desillusionierend banal, unspektakulär, mit normalmenschlichen Ecken und Mängeln, möglicherweise zahnlos, blass oder gar versehen mit beißendem Mundgeruch. Alles andere ist lediglich aus Wunsch! Legenden scheinen eben größer! Trotzdem: Als Mythos hat man Verantwortung in seiner Rolle und muss sich mythisch geben, am einfachsten mit Brutalität.
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