Wenn der Mensch sich selbst vergessen hat - das Los des realen Untergangs
Alexander Jasch |
Essay von Alexander Jasch zum „Selbst" als Modell
Eine alterslos junge Frau liegt, in annähernd Eilage, kauernd, verkehrt, längsseits in einem Lehnsessel und telefoniert mit ihrem Mobiltelefon, freudestrahlend. Der Raum in dem sie ist, scheint weißlich lichtüberflutet, der Sessel ist rot, sie ist blau bekleidet. Die Stimmung ist hell und angenehm warm. Sie benimmt sich, daheim, jetzt einfach mal ein bisschen daneben, völlig entspannt, völlig vertraut - sie hat einen so Rundum-Sorglos-Gesichtsausdruck - Telefonieren ohne ende, nie mehr einsam, alles einfach sagen können, für nur fastnix Euro im Monat und auf die bequemste Art, endlich man selbst sein können. „Es" ist billig, man kann einfach so bleiben wie man ist, immer ist jemand für einen da, kein dickes Ende wartet. Das Außen ist gut, man selbst auch, weiß aber nicht so genau wie... schön, wenn man sich um nichts mehr kümmern muss.
Was ist ein Gemüt - wie steht es mit Gemütlichkeit? Muss man sich darum, wie um so viel zu vieles, auch noch erst mal kümmern? Dabei geht es darum - so wie es rundum kommuniziert wird - unbekümmert, also schlicht und einfach glücklich selbst erfüllt zu sein. Haben wir dabei, nicht zuletzt durch die Werbung, ein total verkorkstes, dummes, passives Selbstbild? Man ist in lauter Schemata der Naivität verstrickt. Und überhaupt: diese ganze Glücksidee, ist das nicht alles darwinistischer Kitsch? Man sollte aufhören damit, mit diesem unkritischen, idyllischen Selbstbild, einem gottgegebenen elementarteilchenhaften Selbst. Das passt nicht zu unserem kommunikativen Wesen, uns Sozialtieren und Teamplayern, es wirkt wie die feige Ausrede eines sonst so skeptisch-wissenschaftlichen Materialisten.
Man fragt sich endlich: welcher Mensch? Dabei geht es nicht um die Beste aller Welten, sondern darum, was ist der Modus für den besten Menschen? Welches ist die beste Ausdeutung vom Selbst? Dies als radikale Moderne gedacht, wo man aufhört immer nur an der Umgebung herum zu doktern, im Sinne eines Planierraupenethos (alles was nicht funktioniert wird plan gemacht), statt dessen an die einzig wirklich veränderbare gestaltbare Größe heran zu gehen, dem Selbst, als Modell oder eben dem Modus dessen, was in uns an sich undenkbar identisch ist. Dies macht jeder ganz egoistisch, aber im sozial positiven Sinne gesehen, für sich allein, so wie er möchte.
Wenn der Mensch sich selbst vergessen hat: Der allgemeine Dünkel einer Meinungs- und Verbraucherschaft ist überall. Für alles gibt es ein Testgutachten, Kritik wird mit nörgeln verwechselt. Gern wird der Finger in die Wunde von Missständen gelegt, die letztlich doch resignativ hingenommen werden, da man sonst etwas, zu aller erst an sich selber ändern müsste.
Wir, in einem der EU-Staaten sind die mit Abstand satteste Bevölkerung der Geschichte. Die Frage ist, ob wir bereit sind, uns für bedürftig zu halten oder nicht. Es ist offensichtlich, dass wir uns diese unsere Bedürftigkeit selbst eingetrichtert haben, diese uns eingetrichtert wird (Werbung, Konsummarkt etc...) Die zeitgenössische Meckerei - passives Empörungswusstsein - zeigt, dass man der „Verführung" auf den Leim ging. Es mag widersinnig klingen, aber will man der Beherrschung einer ungerechten Verwaltung entfliehen, so sollte man gerade von dieser kleinbürgerlichen Unzufriedenheit absehen.
Es ist erschütternd, wenn man in den Kosmos verarmter Schwellenländer verreist, zu sehen, wie die Völker dort zu existieren wissen, inmitten himmelschreiender Ungerechtigkeit augenscheinlich glücklicher sind als manche Bürolarve hierzulande. In Mexiko beispielsweise kann man immer wieder Leute beobachten, wie sie sich mit einfachstem (unerlaubten) Straßenhandel die Mittel zum Überleben beschaffen. So mancher steht in Mexiko Stadt in den Überführungstunnels der U-Bahn und bietet Kaugummis feil. Betteln scheint dortzulande unwürdig. (mit Ausnahme der ausgestoßenen Indios) Umso stärker wirkt die Würde dieser Leute, welche das Los des realen Untergangs gezogen haben. Es mag hoffnungslos scheinen, ist es aber nicht. Vielmehr wird hierbei klar, dass wenn der Mensch glaubt, dass er da zu sein hat, in einer für ihn unmittelbaren Wirklichkeit, wirkt er immer natürlich, an sich frei und sei es ihm auch noch so elend zumute, er ist Gesetz so wie alles andere Naturgesetz ist. Doch dies besteht für ihn nur im Zusammenhang wirklichen Handelns. Solange man also in irgendeiner weise aktiv bleibt, ist man am leben und guter Dinge - dankbar, hoffender, glaubender. Mir schien, dass es die kleinen Dinge oft waren, welche entscheidend sind. Das für sich, in seinem unmittelbaren, persönlichen Rahmen ehrliche Sein, das aufrechte Tun war es, welches für das Glück des einzelnen entschied. Man muss das so sehen, es ging nicht darum, immerzu „gutes" im moralischen Sinn zu tun, was zählt ist die Entschiedenheit das bewusste an jeder Tat. Es war niemals das Große unternehmerische Glück ausschlaggebend, der Erfolg einer Sache, oder das revolutionäre Prinzip welches die Menschenwürde so unantastbar wirken lassen will, für immer garantieren soll. Nein, es war die Fähigkeit dieser Landsleute, sich in der geringfügigsten Weise am Allgemeinen zu beteiligen. Vielleicht lässt es sich so sagen: das Wichtigste ist, dass man Freunde hat, vor allem im Elend. Freundschaft wiegt jeden Schatz, jedes noch so lange Leben im einsamen Wohlstand leicht auf.
In einer Kurzgeschichte aus den 50er Jahren las ich, dass jeder in der russischen Gefangenschaft nur daran dachte, sich selbst zu retten, dass es niemanden gab der nicht den gefrorenen Leichnam seines Freundes gegessen hätte, man teilte nur in kalkulierender Absicht... ist diese grundverzweifelte Haltung also ein Erbe aus dem 2. Weltkrieg, oder den barbarischen Phasen in der Kulturgeschichte; ist dies ein Erbe, welches sich existenzialistisch in unser Bewusstsein eingebrannt hat?
Man fragt sich angesichts dessen, warum in unserer Gesellschaft eine derartige Unzufriedenheit herrscht. Warum diese Passivität, diese hoffnungslose Selbstzerstörung etwa des Massenalkoholismus? Warum diese absurde Stillhalte- Mentalität der immer dicker werdenden Nichtwählermasse? Woher diese Unmenge an Einsamkeit, die aus dem immer unübersehbarer werdenden Markt an Kleinanzeigen für Intim- u. Sexbeziehungen heraus strahlt? Woher diese totale Bewusst- und Besinnungslosigkeit? Diese allseitige, verkrampfte Kontrollsucht - „man muss eben immer kämpfen" - und Willensbekundung, wo eh nichts zu holen ist? Und warum sind vor allem diese "vom Staat durchgefütterten Massen" so unglücklich, so sichtbar unzufrieden? Im Seminar für „Burnout"-Syndrom-Patienten lernt man die Parole „Zeitwohlstand statt Güterreichtum" - und warum checkt das keiner dieser Sozialhilfeempfänger - Hartz-IV-Protestler?
Warum sind all diese Arbeitslosen als Elende und Ausgestoßene definiert, und so derartig zu nichts zu gebrauchen, warum engagiert sich da keiner für irgendetwas, für andere? Warum machen so wenige etwas aus ihrem „Zeitkapital"? Man kann es ja auch einfach mal genießen, am Leben zu sein.
Das Argument, nicht jeder hätte die Möglichkeiten und Voraussetzungen, um menschlich derart weit kommen zu können ist eine Ausrede, sich einer Grundwahrheit, einem Grundanspruch zu entziehen. Es ist dies dagegen die grundnatürliche Bedingung des Menschseins: jeder Mensch hat die Begabung zur menschlichen Entfaltung an und für sich, es ist die Begabung zur Menschlichkeit, dies als Grundzug aller Kultur, im Sinne des geistig sozialen Entwicklungsstandes. Kultur ist hier die Gesamtheit der Errungenschaften auf geistiger, künstlerischer, humanitärer Ebene. Ohne Menschlichkeit ist also keine Kultur möglich und ohne Kultur ist kein Mensch möglich. Es ist schlicht eine Ausrede, dies auf materielle und/oder individuelle Grundvoraussetzungen zu schieben, darum geht es einfach nicht. Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein sind Vorgänge die einem blind-Tauben und/ oder eingemauerten Häftling genauso möglich sind wie jedem noch so verwöhnten reichen Pinsel.
Zur Zeit werden hierzulande gern die allgemeinen Menschenrechte als der Weisheit letzter Schluss hochgehalten, und doch verkennt man gerne genau deren eigentliche Aussagen. Es ist eben einfach bequemer für Flüchtlinge einzutreten, auf die unwürdigen Zustände anderenorts zu verweisen, als konkret das, was zuhause vorhanden ist, umzusetzen, die Schuld des Besitzes gewissermaßen einzulösen. In der Bearbeitung der einfachsten, naheliegendesten und dabei elementarsten Dinge strahlt naturgemäß eine heilende Wirkung nach außen, gerade in Richtung der Bedürftigen ab. Mit anderen Worten: der Sozialhilfeempfänger und Schwarzarbeiter, der Steuerflüchtling und Tarifstreiker, der Manager und Abteilungsschleifer, sie alle sollten, statt immer nur auf ein behinderndes, verunmöglichendes Außen zu schimpfen, endlich einsehen, dass sie selbst der begrenzende Faktor vor allem sind und es ist auch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wie Menschen es vorziehen sich selbst zu Grunde zu richten, als sich im Sinne aller wenigsten selbst aufrecht zu erhalten. Es geht nicht um Reichtum und Gewinn, sondern um Menschlichkeit und die Mittel dafür sind jedem in die Wiege gelegt.
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